RESONO - Einführung zur Ausstellung

Dr. Teresa Ende | Kunsthistorikerin | Dresden | 25. August 2018

Jede Linie ist Bewegung – oder richtiger gesagt: eine Linie vollzieht sich immer in der Bewegung, weil sie die Verbindung zweier Punkte ist. Zugleich ist die Linie Bewegungsspur und kann eine Formation, Reihe, einen Abstand und Richtungsimpuls bezeichnen. Auf diese Weise durchschreitet sie Raum und Zeit, sie beschreibt, fixiert und markiert. – Dabei gibt es in der Natur per se gar keine Linien: Jede Linie ist ein Konstrukt, ein Denk-, Hilfs-, Fixier- und Ordnungsmittel, zur intellektuellen wie künstlerischen Aneignung von Welt.

Diese Implikationen der Linie spielen in der Ausstellung mit Arbeiten von Susanne Hampe, die wir heute Abend in der Galerie K in Plauen eröffnen, eine wichtige Rolle. Dabei zeigt sich im Schaffen der Dresdner Künstlerin ein breites Spektrum ebenso sensibel wie handwerklich versiert eingesetzter künstlerischer Materialien, Medien und Techniken: Susanne Hampe verwendet für ihre Zeichnungen, Gemälde, Collagen, Papierarbeiten und Objekte ‚klassische‘ wie auch experimentelle Mal- und Zeichenmittel, Farbe, Harz, Wachs und Pigment ebenso wie Gewebe und Textilien, Faden und Schnüre – all das ist der an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste und an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee ausgebildeten Bühnen- und Kostümbildnerin vertraut.

Ich möchte Sie einladen, den in ihren Arbeiten zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen bildnerischen wie bildenden Dimensionen der Linie – als Verbindung, Ursprung, Abschluss und Spur – ein wenig genauer nachzugehen. Denn die versammelten Werke Hampes bilden, visuelle, räumliche wie auch zeitliche Liniengefüge und -räume und gemahnen zugleich an den jeder Linie innewohnenden Dualismus von Zeichen und Abbild.

Beginnen wir unsere Betrachtung mit jener titelgebenden Werkgruppe „Resono“, die Sie zum Teil vielleicht von der Einladungskarte kennen und in denen die künstlerischen Interessen, Mittel und Prinzipien Susanne Hampes besonders pointiert zur Anschauung kommen. Der Titel der Serie geht auf das lateinische Wort „resonare“ zurück und bedeutet „ich erklinge“, „schwinge mit“ oder „töne wieder“. Eine Resonanz meint ein Bezugnehmen, eine irgendwie geartete Reaktion auf etwas Vorausgegangenes, einen Widerhall von einer bereits gemachten Aussage, einem bestehenden Bild oder Gegenstand. Es nimmt davon seinen Ausgang und hat etwas damit gemein – und ist dennoch nie bloßes Abbild oder Echo jenes Ersten, sondern etwas Eigenes; autonom und doch nicht ohne Verbindung zum Vorausgegangenen denkbar.

Die Rede von Resonanz und Widerhall ist hier insofern Programm, als Susanne Hampe für die Serie große, sehr dünne Papierbögen, die auf dem Boden ausgelegt werden, beidseitig mit unterschiedlich dicht aneinandergesetzten, horizontal verlaufenden und die gesamte Blattbreite durchmessenden Farbstiftlinien versieht. Anschließend werden die Blätter gewachst und jeweils zwei von ihnen miteinander verklebt, sodass nicht nur das Liniengefüge der Rückseite des zuoberst liegenden Bogens durchscheint, sondern auch das des damit verbundenen, darunter platzierten Bogens. Aus der Schichtung der Bögen ergibt sich ein halb gelenktes, halb dem Zufall überlassenes bildparalleles Gefüge aus unterschiedlich starken Linien, wobei das Durchscheinen der dahinter oder darunterliegenden der Darstellung eine Bewegung und eine Tiefenräumlichkeit ähnlich einem Bildraum suggeriert, obwohl wir es lediglich mit Linien auf planem Grund zutun haben. Ähnlich ist das Prinzip bei den auf Holzkörpern aufgetragenen Schichten von Bienenwachs mit Dammarharz, die wiederum mit farbigen Linien versehen werden. Anschließend trägt die Künstlerin die nächste Wachsschicht auf, was die darunterliegende Zeichnung versiegelt, die so zum Malgrund und Resonanzboden für eine weitere Zeichenschicht wird, und so weiter.

Mal stellen sich die Assoziationen an Landschaften oder Wasserspiegelungen lediglich aufgrund von Partien mit dichter gesetzten Linien ein, die uns an eine Horizontlinie denken lassen. Mal sind die Anbindungen an existierende Landschaften deutlicher, wie in „Weite“ von 2018, wo die Blau-, Grün- und Gelbtöne, Himmel, Sonne, Wiesen und Wasser des Oderbruchs evozieren. Gleichwohl begegnet uns auch hier ein deutliches Verfremdungsmoment, wenn Hampe die Linien hernach mit Resin, einer Harzschicht, überzieht. Der Bildfindungsprozess gelangt damit definitiv an ein Ende, denn die glänzende Schicht ist (anders als der Firnis auf einem Gemälde) nicht ablösbar. Wie beim Wachsen erhält die Darstellung so einen die Farbtiefe intensivierenden Überzug, doch ist es hier eine Deckschicht, die zugleich veredelt, schärft, schützt und Abstand schafft – wie eine Grenze, die markiert und trennt.

Noch vor einigen Jahren waren Susanne Hampes Werke sichtbarer an die reale Welt oder besser: an die Welt der Vorstellung gebunden, wie Sie in der Ausstellung anhand der collageartigen Bearbeitungen von Buchseiten sehen können. Auch da arbeitete die Künstlerin mit Schichtung und Überlagerung, allerdings von Buchseiten, Transparent- oder Goldpapieren sowie deren Besticken mit metaphorisch verfremdeten Figuren, wie dem wiederholt auftauchenden Signet-artigen „Gerippchen“: einem ebenso reduzierten wie berührend ausdrucksstarken Jedermann/Jederfrau als Metapher für unser aller Ringen und Streben, mal aufstrebend und zielorientiert, mal allein und isoliert, mal abstürzend oder selig schwebend. – Aus der Verbindung von gestickter Figur, ungegenständlicher Form und Allover-Struktur auf der einen und den Konnotationen der verwendeten Materialien Papier und Faden auf der anderen Seite entstehen in Analogie zur durchscheinenden gedruckten Schrift in den Collagen komplexe persönliche Reflexionsräume der Künstlerin.

Mit Reflexionsräumen im weitesten Sinne haben wir es auch bei den „Nester“ und „Spuren“ betitelten Objekten Susanne Hampes zu tun: Es handelt sich um Blut- oder fleischfarbene Schnüre, Stricke oder Taue unterschiedlicher Stärke, wobei man erst beim Nähertreten feststellt, dass diese in einem kontemplativ-meditativen Akt der künstlerischen ‚Aneignung‘ mit Zwirnsfaden in Rottönen, seltener in Blau, Gelb oder Grün umwickelt sind. Das Motiv der wenige Millimeter bis einen halben Zentimeter dicken, zumeist roten Schnüre erinnert an Blutbahnen oder Blutgerinsel, wie in der Arbeit „Spuren“. Die Verdickungen mittels aneinandergenähter Schnüre im Objekt „Nester“ von 2016 lassen an Gehäuse von Insekten denken, aber eben auch an menschliche Gewebeknoten oder Wucherungen.

Diese sich bei der Betrachtung einstellende Verbindung zwischen künstlerischer Form und menschlichem Körper irritiert. Schließlich treten die Formen isoliert und losgelöst von jedem biologischen oder medizinischen Kontext auf, der ihren widersprüchlichen Assoziationsfeldern von Lebendigkeit und Wachstum auf der einen, Verletzung und krankhafter Wucherung auf der anderen Seite einen Sinn geben würde. Dabei werden diese Konnotationen noch verstärkt durch die zugleich adelnde und Abstand gemahnende Installation und Zurschaustellung in Glasvitrinen, als handele es sich um anatomische Modelle oder Exponate, die aus dem Rahmen fallen.

In anderer Technik und mit anderer Wirkung untersucht Susanne Hampe das widersprüchliche Potenzial der Linie als Mittel der Assoziation und Dissoziation in ihren zurückgenommenen Strich-Zeichnungen mit Tusche oder Farbstiften. Auch sie bestehen aus den elementarsten künstlerischen Gestaltungsmitteln, nämlich Linie und Farbe, und bilden doch flirrende Flächen, Strukturen und ganze Raster, als handele es sich um Darstellungen gewebter oder gebauter Gegenstände.

In „Refugium“ setzt die Künstlerin mit Rohrfeder und Tusche in senkrechten Reihen kurze Linien aneinander, jeder Strich ist eine einzelne Setzung. In der Zusammenschau ergeben die Linienstrukturen schaukelnd-bewegte, an Textilien oder Architekturen gemahnende Formen. Die changierende Oberfläche entsteht zum einen durch die händisch gesetzten und daher leicht unregelmäßigen Striche, zum anderen dadurch, dass jede neue Aufnahme von Tusche zunächst zu dunkleren, farbintensiveren Einzelstrichen führt, wobei alle weiteren, mit zunehmendem Verbrauch der Tusche, blasser und heller werden, bis wiederum Tusche aufgenommen wird. Die daraus resultierenden Farbunterschiede werden durch die finale Behandlung des Papierbogens mit Wachs weiter verstärkt. Dabei sind die aus seriellen grafischen Mustern gebildeten Rechtecke auf Stelzen zwar von variablen Sichtschutzwänden oder Paravents, wie man sie von Umkleide- oder Wahlkabinen kennt, inspiriert, erinnern aber ebenso an Fahnen, Tore oder schwankende Fantasiewesen.

Im Vergleich dazu erscheinen die Farbstiftzeichnungen auf Karton der Serie „Insel“ von 2017/18 noch puristischer in der Wahl der künstlerischen Mittel. In einer Arbeit setzt Hampe die Striche so hintereinander, dass sie einzelne, immer größer werdende konzentrische Kreise bilden, die von Weitem den Eindruck eines runden Gewebes ergeben. In einer anderen überlagern sich zwei solcher Kreisraster, sodass die Illusion einander überlappender Fächer oder Matten entsteht. In Umkehrung des älteren Prinzips, Nadelstiche als Zeichenmittel zu verwenden (wie wir es beim „Gerippchen“ sehen), werden die Zeichenstriche nun wie Nadelstiche gesetzt, deren Ansammlung sich in der Zusammenschau tatsächlich zum Bild eines Gewebes verdichtet. Susanne Hampe zeichnet dabei nicht wie ein Drucker drucken würde – das Anspitzen des Stiftes, die Stimmung, Tagesform, womögliche Ermüdung der Künstlerin führen zu unterschiedlich pointierten, helleren oder dunkleren Linien, die mal enger und regelmäßiger gesetzt sind, mal bewegter, sodass die Struktur, die sie bilden, dichter oder loser, gazeartig fein oder sackig, glatter oder gewölbter erscheint. Die Formation der einzelnen Linien schafft flächige, ja dreidimensional erscheinende Strukturen – Man könnte sagen: Es sind Handlungen an der Fläche zum Raum.

In den Zeichnungen und Objekten Susanne Hampes fallen Motiv und Technik in eins – wir sehen nichts als die elementaren Gestaltungsmittel und Materialien, aus denen das Bild bzw. Objekt besteht: In Tusche oder Farbstiften ausgeführte kurze Striche oder lange Linien, mit Faden umwickelte Schnüre, als wuchernde Knäuelformen unter Glas oder im Objektkasten vereinzelt. Sie alle geben nicht vor, etwas anderes zu sein als sie sind – nämlich Linien bzw. Linienformen in der Zwei- oder Dreidimensionalität. Die puristischen künstlerischen Mittel von Linie, Form und Material verkommen nicht zu bloßen Funktionsträgern, sondern werden von der Künstlerin in ihrer Eigenwertigkeit und Struktur ernst genommen.

Susanne Hampe erkundet bestehende und schafft zugleich neue Strukturen – als Zeichen analog zur Wirklichkeit. Nie ist das Zeichen mit seinem Bezugsgegenstand identisch und doch ruft es dieses permanent auf. Auf diese Weise erschafft Hampe Spiegelungen menschlicher Existenz, ohne Abbilder oder Abstraktionen davon zu erzeugen. – Eine Linie kann einen Anfang und ein Ende markieren und besitzt zugleich das Potenzial von Unendlichkeit – dieses Paradoxon wird in dieser Ausstellung eindrücklich vor Augen geführt.